Durch die Fügung
der Umstände wurde ich in die Sektion "Das
Internet im Bibliothekwesen" eingeteilt, die
mit hochkompetenten Leitkadern und Experten aus zentralen und regionalen
Allgemein- und Fachbibliotheken Russlands besetzt war.
Es waren auch
deutsche Referenten dabei. Damit möchte ich aber die formellen Informationen
als Einstimmung bewenden lassen.
Die Leiter der Informations- und Automatisierungsbereiche von Bibliotheken nahmen Stellung dazu, wie das Internet momentan an russischen Bibliotheken genutzt wird und wie dieses Neue Medium effizient genutzt werden sollte. Da standen u.a. Themen wie Digitalisierung der Bibliotheksverzeichnisse und Buchbestände, die elektronischen virtuellen Bibliotheken, die Internet-Schulung der Bibliothekare und der Leser, die Klassifizierungssysteme in Online-Webverzeichnissen u.v.m. zur Diskussion.
Sehr aufschlussreich
fand ich die Mahnung einer Teilnehmerin, dass in Russland bisher sehr leichtfertig
mit dem Internet umgegangen werde In der Wirklichkeit aber wäre das
World Wide Web ein höchst leistungsfähiges Tool, dessen Potential
nur unzureichend genutzt wird.
1. Das Erstellen von Linksammlungen sei völlig sinnlos???
Dieser Standpunkt wurde in mehreren Beiträgen ausgesprochen. Dabei wurde folgendes ins Feld geführt:
a) Die meisten URLs seien nach höchstens einem Jahr nicht mehr aktuell. Deshalb löhne es sich nicht, diese Art von Webressourcen (jedenfalls an den Bibliotheken) analytisch zu bearbeiten und zu beschreiben.
b) Ein privater Linksammler könne unmöglich mit den kommerziellen Diensten mithalten.
c) Es löhne sich nicht, das Fahrrad jedes Mal neu zu erfinden.
d) Bei der Suche nach Informationen würden die Webverzeichnisse sowieso kaum genutzt. Der Vorrang gälte der Benutzung von Suchmaschinen. Man brauche nur die Suchkriterien vernüftig einzuschränken, um die gewünschten Infos zu finden.
e) Man sollte mit dem Anhäufen von sekundären Linklisten Schluss machen und vordergründig Webseiten mit originären Inhalten ins Netz stellen ("Content" statt Verweise).
Meine Gegenargumente.
1. Dieser linksfeindliche Standpunkt ist schon deswegen verdächtig, weil er von beamteten Bibliothekaren und Informatikern kommt, denen die mitunter sehr laienhaften Webauftritte der Privaten sowieso von vorne weg verpönt erscheinen sollen. Denn es liegt in der Natur des Menschen, etwas, was er selber nie macht, rundweg abzulehnen. Und ein Profi-Katalogisierer würde in seiner Freizeit kaum eine Linksammlung über seine Hobbies oder gar einen Verweiskatalog erstellen wollen.
2. Eines der Vorteile des Internet besteht gerade darin, dass jeder hier seine Meinung frei äußern darf, soweit er im Rahmen der Netiquette bleibt. Deshalb kann jeder selber entscheiden, was er äußerlich und inhaltlich aus seiner Homepage macht.
Ich persönlich
plädiere lediglich dafür, daß bei jedem Linkverweis unbedingt
kurze Inhaltsangaben gemacht werden. Die Floskeln wie "Besuchen Sie
die total geile Homepage von meinem Freund Bob" bewerte ich angesichts
der immensen Informationsflut als Mißachtung gegenüber den anderen
Netzbürgern.
Also rein psychologisch
und menschenrechtlich gesehen kann jeder seine Bookmarks publizieren oder
eine geordnete Linksammlung anlegen, wenn es ihm selber Spaß macht.
Jetzt aber zu den sachlichen Einwänden.
3. Die Informationsspezialisten reden heute davon, daß von schätzungsweise 800 Millionen Webseiten maximal 200 Millionen Seiten durch die besten Suchmaschinen auffindbar sind. Aus meiner eigenen Web-Erfahrung weiss ich andererseits, dass oft sehr nutzvolle Webinhalte einem rein zufällig (sei es aus Suchmaschinen, Link- oder Mailinglisten) vor die Augen kommen.
Deshalb vertrete
ich den Standpunkt, dass alle Arten von Bookmarks oder Linklisten eine
wertvolle Ergänzung zu der Suchmaschinen-Recherche und den kommerziellen
Webverzeichnissen sein können. Insbesondere wenn diese thematisch
geordnet oder sonst an inhaltlich passender Webseiten-Stelle untergebracht
sind. Um so mehr als die modernen Suchdienste auch nicht einwandfrei sind.
In dem Sinne
würde ich die Linkseiten-Bastler von heute mit den Vertretern des
Zeitalters der Aufklärung vergleichen.
4. Ich glaube nicht, daß irgendwelcher Betreiber einer privaten Linksammlung es darauf abgesehen hat, den Großen wie Yahoo, Altavista oder Hotbot den Rang abzulaufen.
Ich persönlich
bin bei jeder meiner vielen Linksammlungen darum bemüht, meine persönliche
Weltsicht und meine Vorlieben in mein Webverzeichnis hereinzubringen.
Mein Vorteil
gegenüber den Kommerziellen besteht darin, daß ich nicht finanziell
engagiert bin und primär nach inhaltlichen und qualitativen Kriterien
die Links für
meine Kategorien aussuchen kann.
Jede private
Linksammlung ist eben durch ihre subjektiven Akzente eine Bereicherung
der oft uniformierten, einseitigen und undurchsichtigen Linkgräber
der großen Webverzeichnisse.
5. Die Orientierung und Navigation durch den Wust der großen kommerziellen Verzeichnisse ist oft eine Zumutung - insbesondere für einen weniger erfahrenen Surfer, der sich in einer thematisch engeren, dafür aber übersichtlicheren privaten Linksammlung besser zurechtfinden kann.
6. Kaputte Links, nicht mehr existierende, inhaltsleere oder irreführende Webseiten gibt es dutzendweise auch bei den supergroßen etablierten Webverzeichnissen.
7. Stichwort Fahrrad-Neuerfinden. Die heutige Zivilisation existiert bereits seit Jahrhunderten, so daß fast jeder - egal, ob er ein Buch schreibt, ein Gemälde malt oder ein Gerät entwickelt, täglich in die Fußstapfen seiner Vorgänger treten und einen virtuellen Streit mit diesen austragen muß. Sonst sollte man aufhören, Bücher zu schreiben, weil es bereits mehr als genug Bücher gibt.
8. Auch wenn tatsächlich die URL-Ausfallquote nach einem Jahr 20 Prozent betragen würde, sehe ich darin immer noch keinen Grund, um auf die Indexierung und Beschreibung der Webinhalte zu verzichten.
9. Die Internet-Nutzung wird immer stärker. Die Anzahl von Webseiten und Surfern nimmt schnell zu. Schon bei derzeitigen Dimensionen finden man genug Internet-Nutzer, die die Suchmaschinen bevorzugen und solche, die lieber in den aufbereiteten Verzeichnissen und Linksammlungen blättern.
10. Den Fans der "Content"-Seiten würde ich folgendes entgegenhalten. Die verteilten Datenbanken sind längst ein Begriff. Das Internet ist im Grunde eine globale verteilte Datenbank. Für einen Informationen Suchenden ist es egal, ob sich meine Webseite in Russland, Deutschland, den USA oder sonstwo befindet. Ausschlaggebend ist es, daß er an die gewünschten Informationen schnell herankommt.
Somit würde ich die Hauptseite mit dem Inhaltsverzeichnis, das auf die einzelnen Seiten am selben Server verweist, mit einer Linkliste gleichsetzen, die auf weltweit gestreuten Webinhalte aufmerksam macht.
11. Ausgehend vom Punkt 10 bin ich der Meinung, daß eine gut geordnete und qualitativ hochwertige Linksammlung ebenfalls als eine "Content"-Seite zu betrachten ist. Natürlich kann ich mich hinsetzen und eineb Artikel über Albert Einstein schreiben. Ich finde aber lieber 10 Stellen im Internet, wo bereits ähnliche Texte vorhanden sind. Damit bringe ich diese quasi in den Internet-Umlauf und erleichtere zugleich die Suche den anderen an diesem Thema interessieren, die sich Zeit und Mühe sparen können.
Den "Content" um des "Contents" willen zu produzieren hieße eben, das Fahhrad unnötig neu zu erfinden.
12. Zu guter
Letzt sei noch darauf hingewiesen, dass auch die sogenannten originären
Webinhalte heute noch viel zu wünschen übriglassen. Beim näheren
Besehen ergibt es sich oft, daß die sogenannten "elektronischen Dokumente"
nichts weiter sind als eine ins Netz gestellte Kopie einer Printedition,
ohne dass die Online-Vorteile wirklich zum Tragen kommen.
Juri
Novikov
Moskau,
den 21.Januar 2000
Meine
Email-Adresse: [email protected]